Der Enkelsprung: Wanderungen in der Hohen Tatra, 1938

Wenn ich einen Ankerpunkt in meiner Ahnenreihe benennen wollte, würde der vier Generationen zurückreichen, bis zu meiner Ur-Ur-Großmutter: Anna Weiß, geborene Nowotny, geboren ca. 1850 in Wien und Sproß der Wiener Bohéme-Künstler-Familie Notwotny unter dem Patriarchen Graf Nowotny. Die Jahre nach 1867 darf man für das Wien der Zeit der k. u. k.-Doppel-Monarchie Österreich-Ungarn als Schöne Epoche bezeichnen; seit der Jahrhundertmitte setzte ein wirtschaftlicher Aufschwung ein. Das Staatsgebilde war zunächst bis 1914 stabil als einheitliches Völkerrechtssubjekt.
Der Ausgleich der Habsburger mit den Ungarn hatte ab 1967 dort für eine weit reichende staatliche Autonomie gesorgt, die allerdings bei anderen Nationalitäten, insbesondere bei den slawischen Völkern, zu Begehrlichkeiten aus Mangel führte. Die konkreten Forderungen nach einem ähnlichen Ausgleich wurden vor allem von den Tschechen für die Länder der böhmischen Krone (Böhmen, Mähren, Österreichisch-Schlesien) erhoben. Hier hatte der starke Nationalismus als Bewegung einen seiner Ursprünge, einmal für die späteren Staatsgründungen nach 1918, letztlich aber auch, als Folge, für die späteren ethnischen und kulturellen Separationen nach 1945.
Von meiner Ur-Ur-Großmutter Anna Weiß, geborene Nowotny, gibt es leider keine mir bekannten Dokumente, Akten, Fotografien oder Porträt-Gemälde. Es haben sich jedoch reichlich Kolportage-Überlieferungen bei ihren Nachfahren und meinen Vorfahren um ihre Person gebildet: Sie galt unserer Familie als sehr lebenslustig, künstlerisch-musisch begabt, intelligent und stark libidinös besetzt, leichtlebig, impulsiv, mit vielen Seitensprüngen. Verheiratet war sie in Wien mit Anton Weiß. Am 28. Dezember 1879 kam deren Tochter Johanna Weiß zur Welt.

Der Impakt, den ein außergewöhnliches Individuum mit seinem Familienstamm in eine eingeheiratete Familie einbringt, zeigt sich zumeist nicht unmittelbar bei den direkten Abkömmlingen der ersten nachfolgenden Generation, den Söhnen und Töchtern, sondern in der Regel erst in der Enkelgeneration. Bei den vier Enkeln von Anna Weiß, geborene Nowotny, durfte sich das dann auch in seiner ganzen Bandbreite, zwei Mal bei beiden Geschlechtern, ausdifferenzieren. Diese transgenerationelle Wirk-Dynamik in der Ahnenfolge nenne ich den "Enkelsprung".

Vater Cyrill Bobek war in Wien Postbeamter und wurde von der österreichischen Postbehörde nach Brünn aka Brno versetzt. Die Familie zog um. Die Eltern von Cyrill waren Mathias Bobek und Anna, geborene Ondrich. Cyrill wurde am 4. März 1881 in Hluk geboren.
Tochter Anna aka Anschi folgte ihrem Vater in die Postlaufbahn und war während ihres gesamten weiteren Lebens überzeugte Postbeamtin in einem Staatsbetrieb, wenn auch bei unterschiedlichen Staatskonstruktionen. Den Niedergang in die Entstaatlichung der hohheitlichen Postdienste hat sie nicht mehr miterleben müssen. Musisch begabt war sie in ihrer Malerei aus Passion, meistens im strebsamen Studium der impressionistischen Meister durch Nachmalen, Imitation, Kopieren, Ausprobieren. Aus Gründen, über die noch zu berichten sein wird, war sie zudem unerschrocken Weltreisende. Außer der Antarktis hat sie alle Kontinente bereist. In der Buchsammlung ihres Nachlasses fanden sich viele Titel zu Traumdeutung, (Para-)Psychologie und Übersinnlichem. Und es fanden sich ihre Reisejournale.
Während Ludwig Bobek nach 1945 in Frankfurt am Main als KFZ-Mechaniker einen Reparaturbetrieb für Kraftfahrzeuge aufbaute, hat es Johann aka Hans nach Wunsiedel im Fichtelgebirge, in die nordöstliche Ecke von Bayern, verschlagen. Dort arbeitete er als Erfinder, Tüftler, Bastler, Reparateur für Radio-, Funk- und Fernsehgeräte. Als Berufsbezeichnung wurde anlässlich der Gerichtsverhandlung um seinen Unfalltod am 18. Dezember 1981 im Bericht der Lokalzeitung vom 27. November 1982 "Rundfunkmechaniker" angegeben. In unserer Familie wurde oft kolportiert, dass er angeblich mit Wernher von Braun korrespondiere, galt aber auch als Einzelgänger und als leicht verschroben.
Meine Großmutter Maria Theresia aka Mitzi war die Sängerin in unserer Familie. Ich habe als Kind oft ihre Stimme bewundert, als sie bei Rundfunkkonzerten Opernarien einfach mitsang. Ihr Wiener Backwerk, "Mehlspeisen", insbesondere zur Weihnachtszeit, mit besten Zutaten und viel Liebe zubereitet, war umwerfend geschmackvoll: Vanillekipferl, Nußbeugel, Früchte- und Schokoladenbrot. Sie brachte den österreichischen Zungenschlag, den Slang, und das österreichische Vokabular in unsere Stuttgarter Familie. Mitzi war klein und schmächtig, aber auch sehr resolut, feurig und impulsiv, manchmal auch rechthaberisch. Im Archetyp des "verwundeten Heilers" war sie das wandelnde Medizinallexikon, eine Enzyklopädie des Heilwesens trug sie als schweres "Ärztebuch" oft mit sich herum, hilfreich bei Kinderkrankheiten. Mich hat sie davor bewahrt, dass meine schwangere Mutter in der Kinderschwemme der beginnenden 1960er-Jahre die damalige Wellnessdroge Thalidomid als Medikament einnahm. Thalidomid wurde als Verkaufspräparat Contergan verschrieben. Vor was ich da von ihr bewahrt wurde, konnte ich im weiteren Verlauf der 1960er-Jahre als Kind im Fernsehen bereits selbst verfolgen: Der Journalist Hans Mohl gründete 1964 beim ZDF die Aktion Sorgenkind als Fernseh-Lotterie mit anschließenden TV-Dokumentationen über Hilfestellungen der Lotterie für die Opfer der Pharmaindustrie. Als anno 2021 und 2022 die Pharmaindustrie erneut auf Menschenopfer-Beute aus war, half meiner Mutter der Komplex "Contergan" sehr als Argumentationshilfe in ihrem sozialen und dem allgemein repressiven Umfeld. Das kannte man noch, da war doch irgendwann was gewesen. Historisch zu argumentieren ist heilsam, um sich gegen eine unheimliche Bedrohung der Gegenwart mit dem Wissen um die Vergangenheit wehren zu können. Mitzi hatte den Archetyp Chiron auf 26° Zodiak-Wassermann. Das liegt nicht weit weg von meinem AC und direkt auf meiner Mond-Uranus-Oppositionsachse. Der Enkelsprung ging also weiter, zu mir.

Die Familie von Adolf Hlavaçka aka Hlavatschka war in Preßburg aka Bratislava zu Hause. Seine Mutter Amalia war Italienerin, sein Vater Slowake. Nach der Hochzeit wurde aus Maria Theresia Bobek eine Hlavaçka; sie zog von Brünn nach Preßburg aka Bratislava zu ihrem Ehemann. 1941 kam in Preßburg meine Mutter Herta zur Welt. Bratislava liegt in der südwestlichsten Ecke der Slowakei, Luftlinie ca. 55 Kilometer von Wien entfernt, direkt an der österreichischen Grenze und ebenfalls an der Grenze zu Ungarn. Europäische Kulturen, Sprachen und Gesellschaften lagen dort dicht beieinander: Das historische Erbe von k & k Österreich-Ungarn überformte und durchwirkte auch nach den tschechisch-slowakischen Staatsgründungen den Alltag der Familien, was man spätestens an der Speise-, Koch- und Ess-Kultur am Küchentisch merken konnte.
Über Adolf kam italienisch-slowakischer Drive in die Familie; er galt als Lebemann, als Don Juan und großer Womanizer. Mitzi war dem und ihm gewachsen und gab Kontra. Anschi fand ihn und seine Anmache ätzend. Er arbeitete in Bratislava als Kurier und es ist mir bis heute unbekannt geblieben, für welchen Auftraggeber oder Arbeitgeber er welche Kurierdienste wohin verbrachte und was er genau und warum transportiere, persönlich abholte und übergab. Da liegt noch ein dunkler Schatten des Unwissens für mich verborgen. Jedenfalls steigerte neben Cyrills und Anschis Beschäftigung bei der Staatspost Adolfs private Kurierdienst-Tätigkeit die Bedeutung von Fernkommunikation und Kommunikationslogistsik für die Familie.

Anschi blieb bei ihrem Geliebten Beppo Jírsa in Brünn; beide heirateten. Dadurch wurde Anschi tschechische Staatsbürgerin und wäre dadurch später von den Vertreibungen durch die Beneš-Dekrete nach 1945 verschont geblieben. Sie war eine Person mit entschiedenem und außerordentlichem Gerechtigkeitsempfinden, mit dem sie nicht vor dem Berg halten konnte, gegenüber nichts und niemandem: darin sehr exaltiert und recht undiplomatisch. Als sie mitbekam, dass eine ihrer Freundinnen, Vlasta, in Brünn in deren Ehe vom Ehemann misshandelt wurde, ist sie eingeschritten, um diesem Mißstand abzuhelfen. Sie hat sich dabei an die damalige, lokale polizeiliche Ordnungsbehörde gewendet. Das war zu jener Zeit nun dummerweise die Geheime Staatspolizei – Gestapo – des Deutschen Reiches. Das hatte damals in der betreffenden Angelegenheit ziemlich schnell gewirkt, entwickelte sich jedoch für Anschi nach 1945 zu einem lebensverändernden Bumerang: Sie wurde nach der kommunistischen Machtfestigung in der ÇSSR inhaftiert und verbrachte Jahre im Gefängnis. Ihr Ehemann Beppo hat sich darauf von ihr scheiden lassen. Ihre Mitgefangenen stammten zumeist aus der vorherigen tschechischen Oberschicht; das waren dann frühere Professoren, Schriftsteller und Intellektuelle als überzeugte Anti-Kommunisten. Sie nutze die Zeit der Gefangenschaft als studium generale und lernte im Selbststudium Englisch. Sie schwor sich, dass, wenn sie aus dieser Kerkerhaft einmal heraus käme, sie sich die ganze Welt auf Reisen anschauen werde, und zwar ohne Ehemann.
Ihre Schwester Mitzi erreichte nach einer mehrfach lebensgefährlichen Flucht mit dem Schiff über die Donau 1945 zunächst das durch die US-Armee befreite Österreich und lebte nach zugeteilter Überstellung in Richtung Deutschland mit ihrer jungen Tochter dann unter einfachsten Bedingungen zunächst in Mühlhausen im Täle im Landkreis Göppingen bei Geislingen an der Steige. Ihr Ehemann Adolf kam nach relativ kurzer Zeit aus der Kriegsgefangenschaft ebenfalls nach Mühlhausen und baute dann als Arbeiter zunächst am Drackensteiner Hang den Albaufstieg der Autobahn zwischen Stuttgart und Ulm weiter, bevor er später bei WMF in Geislingen an der Steige Beschäftigung fand.
Mitzi schrieb nach den deutschen Nachkriegs-Staatsgründungen und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mehrere Petitionen bezüglich ihrer Schwester an die Politik. Daraufhin kam Anschi Anfang der 1950er-Jahre frei und durfte nach Westdeutschland zu ihrer Schwester ausreisen. Da sie schon zuvor als Postbeamtin gearbeitet hatte und Belege dafür nach ihrer Ausweisung mitbrachte, fand sie relativ schnell wieder Arbeit und eine Anstellung als Postbeamtin im Schalterdienst bei der Deutschen Bundespost.
Meine beiden Familienstränge, der mütterliche und der väterliche, fanden sich jeweils Anfang der 1950er-Jahre im Württembergischen wieder und trafen irgendwann aufeinander. Meine direkte Vorgeschichte und dann auch meine Lebensgeschichte konnte damit beginnen.
+++