Eine Woche in Stuttgart.

2 Hunde, ein Fotograf, wäre hier zu sehen, wenn die Darstellung Fotos erlauben würde.
Stuttgart, Rosensteinstraße, vor dem Naturkundemuseum. Digital-Foto vom Stuttgarter Freund.

Beobachtungen, Notizen und Bemerkungen

Joachim Polzer am Schreibtisch.


Aus Potsdam reise ich Ende April 2025 für eine Woche in meine Geburtsstadt Stuttgart, Lebensraum meiner Kindheit und Jugend. Meine Gegend war der westliche Teil von Stuttgart-West, der, im Gegensatz zu Berlin, Frankfurt oder London, nie Westend genannt wird, obwohl es die Westend-Apotheke dort gab und gibt. Für mich existieren familiäre Bindungen dorthin und auch die Mietwohnung meiner Familie seit November 1954 existiert noch als mein Unterschlupf bei meinen Besuchen. Für Westend spricht, dass es alsbald nur noch den Aufstieg über Hasenbergsteige oder die Rotenwald-Serpentinen hinauf zum Birkenkopf gibt; der Westen endet damit topologisch abrupt am verflossenen Westbahnhof, den ich noch in Funktion kannte. Am Birkenkopf hat man Ende der 1940er und Anfang der 1950er-Jahre zusätzlich einen Trümmerberg errichtet, der noch heute begrünt als Ausflugsziel und Aussichtspunkt für Wanderungen dient, umgeben von Waldgebieten mit Teichen. Diesen Trümmerschuttberg als Folge des Zweiten Weltkriegs hat der Volksmund "Monte Scherbelino" genannt. Auf seiner Spitze steht ein großes Kreuz, weithin sichtbar in der Talkessel-Stadt, die von Höhenzügen landschaftlich umrahmt wird. Stuttgart hatte stets die Tendenz die Höhe noch überhöhen zu wollen, also insgesamt hoch hinaus zu wollen, wofür seit 1955 der Stuttgarter Fernsehturm des damaligen Süddeutschen Rundfunks ein ebenfalls weithin sichtbares Landschaftszeichen wurde. Heute würde man eher auf Windmühlen warten, die man in dieser Stadt aber nicht und schon gar nicht dort sehen will, wie am Schloss Solitude in der aktuellen Debatte. Klein gemahlen wird dabei der Wind durch die Windturbine; den Durchzug als Frischluft-Brise benötigt man jedoch dringend unten im Tal der Stadt. Bei archäologischen Grabungen am Kastell in Bad Cannstatt hat man vor kurzem ein großes römisches Massengrab für Pferde aus dem 2. Jahrhundert gefunden. Die Lokalpresse berichtete ausführlich, die Nachricht geht sogar bis in die Top-News der deutschsprachigen Wikipedia. Diese Gegend hier war schon immer relevant. Die US-amerikanischen Truppen sind in Stuttgart nach wie vor mit Kommandoständen in ihren Kasernen sehr präsent.

Ein Viertel dieses Jahrhunderts liegt nun hinter uns; bald ist die Mitte des Jahres, die Sommersonnenwende, erreicht. Die 5er-Jahre einer jeden Dekade deuten den kombinierten Umschwung an – aus Verstärkung der begonnenen Dekaden-Substanz mit ihren spezifischen Themen bei gleichzeitigen Schauplatzwechseln als zusätzlich anfachende Dynamik. Das war 1915, 1925, 1935, 1945, 1955, 1965, 1975, 1985 und 1995 schon so. Danach wurde es mir diffuser. Bis 2015 hatte ich das Gefühl einer steten Kontinuität des 20. Jahrhunderts in’s 21. Jahrhundert hinein. Dieses Gefühl ist mir seit 2015 und spätestens dann seit 2020 komplett abhanden gekommen. Aber dieses Neue fühlt sich nicht gut an und kann im Stand von 2025 eigentlich nur als reale Umsetzung, Anwendung des Amycus-Mythos verstanden werden: dem Herniederreißen alles Bestehenden, Erzielten und Erreichten.

Umfeld: Einkaufsgegend Schwabstraße, Ecke Rotebühlstraße. Zwei Apotheken, Buchhandlung, Fahrschule, Tabakladen mit Postagentur und einer ohne, Drogeriekette, Bankfiliale mit Automaten, Blumenladen, Tattoo-Studio, Asia-Imbiss, Farben-Nagel, Reisebüro, plattsalat um die Ecke, kein Fotogeschäft, kein Kurzwarenladen, kein Café Kipp und kein Schreibwarenladen mit Copyshop mehr, zwei Lebensmittel-Supermärkte, S-Bahn-Zugänge, Bushaltestellen.

Der eine Supermarkt hat erweiterte Öffnungszeiten bis 24 Uhr und bedient den Spätkauf-Bedarf mit, insbesondere für das junge Partyvolk der Hipster, die generationell das Stuttgarter Westend übernommen haben. Ich war dort Einkaufen zu unterschiedlichen Zeiten und fast jeder Kunde hatte elektronische Stöpsel im Ohr, weiß oder schwarz, mit Antennenstummel oder ohne. Früher war das eine Krankheits-Prävention: Wattepropfen im Ohrkanal, damit es nicht so zieht und das Innenohr warm bleibt, um eine Mittelohrentzündung in der kalten Jahreszeit zu vermeiden. Jetzt nimmt man Bluetooth-Strahlung dafür, wie früher bei der radiologischen – oder besser gesagt: der Kurzwellen-Strahlungs-Bewärmung der Bronchen beim Kinderarzt.

Was ich sehr bemerkenswert fand, war meine Wahrnehmung, dass diese Verstöpseltheit fast jede Person im Innenraum beim Einkaufen zu unterschiedlichen Zeiten betraf, nur eben nicht mich, da mich diese invasive Technik abstösst, die so dicht an meinen Körper, ja, in meinen Körper gelangen möchte, und nicht nur wegen der bronchologischen Strahlung. Welch’ krasse Verkehrung, als man Mitte der 90er-Jahre noch den Leuten erklären musste, warum das eine gute Idee sei, zwei oder mehr PCs miteinander datentechnisch zu verbinden. Heißt: so schnell fühlt man sich als Randgruppe, wenn man nicht Mitläufer der "Sturmflut der Zukunft" (Edward Albee) sein möchte.

Ja, bequem soll es sein, wenn man unterwegs Telefonieren will oder Musikbeschallung auf Zuruf steuern kann. Solche Zeitgenossen glauben wahrscheinlich auch an die medizinische Vorsorge, wenn Körperdaten oder Gedankenströme gescannt werden. Geht noch nicht? Aber bald. An wen oder was sind diese Personen also angeschlossen? An ihr gepaartes Handy? An den Zentralserver? Die Cloud, wo alles wolkig wird? An den Bewegungsmelder? An den Gedankenleser? An den Gedankensteuerer?

Lästig ist dann das tägliche Herausnehmen zum Akku-Laden. Wie werden die Stöpselträger mit dem künftigen Service-Angebot umgehen, dass ein kleines Implantat mit Mikrowärmepumpen-Energieversorgung aus der Körperwärme, noch näher dran und drin, alle ihre umbequemen Problemchen lösen wird? Nur noch connected. Merkt man dann gar nicht mehr. Merkt man dann gar nichts mehr.

Diese krasse Diskrepanz zwischen dem Bildungsgrad, an solche Technik überhaupt rankommen und sie bei der Arbeit auch produktiv nutzen zu können, einerseits, und der kompletten Ignoranz andererseits, zu verstehen, welche Konsequenzen diese Art vom Bequemlichkeit birgt, die fand ich gerade dort im Stuttgarter Westend seltsam irritierend. In der HomeZone von C.G. Jung, Rudolf Steiner und des kontemplativen Blicks auf Höhenzüge.

Szenenwechsel: Tauschplätze, Gegenstände zum Loswerden beim Ausmisten, zum Loslassen, Weggeben und Verschenken, Beiwerk zur bevorstehenden lokalen Sperrmüllsammlung, in Souterrain-Fensterbrettern, Keller-Lüftungsklappen-Ecken, Schaukästen von vergangenen Geschäften geöffnet als Regal. Es sammelt sich Kleidung, Keramik, Gläser, Besteck, aber auch Bücher und weiteres. Soziale Plätze des Austauschs, in Stuttgart materiell und medial bedingt.

Die Liste meiner Fundstücke auf Hunde-Ausführwegen um ein paar Häuserblocks zum Park und zurück von einer Woche:

The Best of Mariachi Azteca. Die Mariachi-Band von Orlanado Rincon Padilla. Audio-CD von ARC, 1995.

The Jewish Song. Hans Bloemendal. Cantor-in-chief of the Netherlands Jewish Main Synagogue in Amsterdam. Audio-CD von Philips, 1994.

the soul chai. die Seele lebt. Giora Feidman featuring NDR-Chor. Audio-CD vom Verlag pläne, 1995.

Best of Christmas in Rome Classical. Mit Bocelli, Caballé, Branduardi, Academy of S. Cecilia, et.al. Audio-CD von SONY Music, 1997.

Paulo Coelho. Unterwegs. Geschichten und Gedanken. Gelesen von Markus Hoffmann, aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann. Audio-CD von steinbach sprechende bücher, 2003.

Müller Texte Lesen. Zweiundvierzig Schauspieler. Lesung vom 2. bis 9. Januar 1996 im Berliner Ensemble aus Anlass des Todes von Heiner Müller am 30.12.1995. Getriebe Der Welt Uneinholbar Tödlich Dem Menschen. Mitschnitt von Radio Brandenburg (ORB). Anthologie, 214 Minuten Spielzeit. Audio-CD-Set (3 Disks), ORB, Henschel, Berliner Ensemble; Vertrieb via Alexander Verlag und BuschFunk, Berlin, 1996.

Lexikon der Kunst. E.A. Seemann Verlag Leipzig, DDR, 1987. Neubearbeitung, Deutscher Taschenbuch Verlag München, Oktober 1996, 7 Bände im Pappschuber. 17.000 Stichwörter, 2.800 Abb., rund 850 Seiten pro Band, rund 10 kg schwer in der dtv-Ausgabe.

Das ABC der Klassischen Musik. Die großen Komponisten und ihre Werke. Begleitbuch zu Werbe-Audio-CD, 337 Seiten, Softcover, Klebebindung, NAXOS Records, 1999 (ohne Audio-CD).

Renate Loose. Thailand. DUMONT Reise-Handbuch, DuMont Reiseverlag, Ostfildern, 1. Auflage 2010, 392 Seiten, mit Nationalkarte als Beilage.

CHOCQLATE. Geschenk-Set, Do-it-yourself-Kit zur Herstellung von frischer Schokolade. Komplett in gelber Box, wie ein Chemie-Experimentierkasten früherer Zeiten von KOSMOS.

Eine leere Holzbox, laminiertes Spanholz, mit Metallbeschlägen, Scharnierdeckel und Verschluss, ca. 19 x 19 x 6 cm, mit der Aufschrift "ORIGINAL SACHER TORTE - AUS DEM HAUSE HOTEL SACHER WIEN. HANDGEMACHT SEIT 1832.“

Eine Metalldose für Gewürze, Aluminium, mit Versiegeler-Kappe und Metalldeckel.

Ein hellblauer Kaffeebecher aus Keramik mit dem STUTTGART-Schriftzug vorne drauf, Henkelgriff rechts, mit vier grauen Tassenuntersetzern aus Filz.

Ein SONY Audio-CD-Spieler, schwer und massiv, leider defekt, Motorschaden, die Fernbedienung jedoch funktioniert an meinem alten SONY CD-Spieler, die mir dort seit 1998 stets fehlte.

Ein Barhocker, mit dem weißen Schild "zu verschenken" in Schönschrift, Stahlkonstruktion und Massivholz-Sitzfläche, schwer, grazil und elegant, kaum Gebrauchsspuren, ideal als Stehhocker am Schreibtisch oder mit Tuch als Vasenständer.

Ich war und bin schwer beeindruckt, was einem da in die Hände fallen kann und fällt. Erneut. Nicht das erste Mal, Anregendem beim Vorbeilaufen begegnet zu sein. Beim vorigen Mal waren es meist DVD-Videos in Ergänzung meiner Filmwerk-Sammlung. Solche Nachbarn im Wohnumfeld hat man gern, die ein gewisses Niveau kulturellen Verständnisses und Lebenswandels teilen. Andererseits: Warum trennen sich die Nachbarn von diesen Sachen? Sie werden ihre Gründe haben.

Weniger gern hat man in dess Nachbarn, die ihre passive Aggressivität, anderen sagen zu wollen, was sie zu tun oder zu lassen haben (Kehrwoche!), als schwäbische Nettigkeit im Deminutiv verkaufen wollen. Der Unterschied zu Potsdam ist, dass es dort protestantische Koketterie im Befehlston ohne humorvolle Brechung ist. Die machen das auch sehr gern. Doch war diese passive Aggressivität für mich damals einer der Gründe, von hier weg zu wollen. Ein anderer diese ständige Alertheit, ob sich die eigene Tätigkeit oder die der/des anderen auch im materiellen Vorteil wirklich rechnet. Diese Art von passiver Aggressivität gibt es hier weiterhin, wie auch die Kehrwoche, allerdings in weniger werdenden Restbeständen, denn bei den Nachbarn im Hausblock funktioniert die Integration von Zuwanderern recht gut, bei einer Stadt-Bevölkerung mit rund 30 % Migrationsanteil. Dazu passt das akuelle Angebot der Hausverwaltung, nunmehr auf professionelle Treppenreinigung umstellen zu wollen. Es findet eine Abstimmung unter den Mietern statt. Der Mehrheitsentscheid gilt.

Szenenwechsel: Feiertagsspaziergang im Rosensteinpark bei Sonne und Wärme, Start am Löwentor-Eingang nahe Pragsattel, später Nachmittag. Eine Stimmung wie damals in den Gärten von Lahore (Punjab, Pakistan), anno 1990, als ich im Land einen Dokfilm über ein Punjab-Dorf drehte. Viele Frauen mit Kopftuch oder Schleier und auch viele Frauen in Burka, schwarz oder bunt, noch mehr Kinder und die Ehemänner. Und viele Fahrradfahrer, die auf engen Spazier-Wegen versuchen, Schnellfahrten auf Zeit mit e-Antrieb hinzubekommen. Wegen der Raser darf der Rasen zum Ausweichen nicht benutzt werden, verboten!, da ungeschnittene Futterwiese für den angrenzenden Wilhelma-Tierpark. Es riecht nach trockenem Heu aus dem auf der anderen Seite angrenzenden Heulager des Tierparks. Meine beiden Hunde mochten weder solche Radfahrer noch die vielen schreienden Kinder, die sich rund um den großen Spielplatz balgten. Nach 18 Uhr 30 wird es ruhiger.

Ich denke über den Leistungsantrieb der angetriebenen Fahrräder und ihrer Lenker nach und hatte die Nachrichten im Ohr, dass das China-Geschäft von PORSCHE, Zuffenhausen liegt unweit des Pragsattels, mehr oder weniger ganz zusammengebrochen sei und MERCEDES-DAIMLER-BENZ gerade einen Gewinneinbruch von 41 % darstellt. Ich überlegte, was das für die Gewerbesteuer- Einnahmen der Landeshauptstadt bedeuten wird und für die Freundlichkeit und Sauberkeit dieser Stadtlandschaft. Wie kam ich d'rauf? Ach ja, der Automobilzulieferer MAHLE, kleinschrift mahle, hat sein Werk unweit des Pragsattels, gleich nebenan, hinter der Wilhelma, Blickrichtung Untertürkheim. Das Werk gehörte zum Chor der deutschen Autozulieferer, die unisono ankündigten, erst einmal 10 % ihrer Belegschaft abzubauen, von verträglich liest man immer weniger. VW und BMW melden ähnliches. Und man darf wohl von chargenweisem Abbau sprechen; das wird nicht aufhören. Wofür steht MUSCHTERLÄNDLE ab jetzt? THE LAND. gone with the wind. großes kino.

Viele meiner Freunde und Bekannten aus Stuttgart, bis zurück zur Schulzeit und Berufsschulzeit der 1970er-Jahre, hat es weit verstreut: Einer in London, einer ging nach Paris, mich hatte es nach Berlin (West) verschlagen, einer landete in der Pfalz, einer nach Rheinfelden an die Rheingrenze zur Schweiz. In Stuttgart bleibt man oder man geht weg. Oder man stirbt hier, wie Detlef Mähl, mein Kino-Mentor vom ATRIUM-Kino, Ende der 1970er-Jahre, den ich 2009 noch retrospektiv interviewen konnte. Aber Zurückkommen? Ein Freund von mir, den ich seit rund 25 Jahre kenne, ist dort, im Schwäbischen, geblieben. Ich treffe ihn im Rosensteinpark.

Das Team Stuttgart im Rosensteinpark. Foto vom Stuttgarter Freund, auf Fujicolor Superia X-TRA 800, expired 2010, belichtet wie 100 ASA, mit Nikon und Sigma-Zoom.

Er erzählt mir von der wilden Papageien-Kolonie im Park, die es öfters in die Schlagzeilen der Lokalpresse und des Regional- Fernsehens geschafft hat. Als wir an den entsprechenden Bäumen beim Spaziergang vorbei kommen, wird eine feixende Touristengruppe von den Papageien ausgelacht. Die Papageien hatten trumpfende Stimmen, so, als ob die Touristen die Papageien nachmachten und nicht umgekehrt. Ich bin erneut beeindruckt und finde den treffenden Begriff dafür: Invasive Arten. Dann frage ich mich, ob die Lokaljournalisten, die über Hordenüberfälle von Papageien in Obstgärten berichten, ob STUTTGARTER ZEITUNG und SWR also, wirklich wissen, was als Sinn ihre Fabel heraustreten lässt und an die Oberfläche spült? Der Freund berichtet mir von verurteilten Papageien-Jägern, die sich den Kahlfraß nicht mehr bieten lassen wollten. Rechtsradikale Tierschänder?

Wir suchten uns eine ruhige Ecke mit Sitzgelegenheit im Park unter Bäumen neben Teich und Sträuchern und ich freute mich über gekühlten Pastis aus seinem Rucksack, mit und ohne Alkohol im Ausschank, stilechte Gläser und Wasser. Mit kleinen französischen Käsewürfeln in bunter Alufolie verpackt zum Apperitif. Ein Mitbringsel seiner jüngsten Kurz-Reise in den Elsaß. Mein Bodeguero Ratorno war als stürmischer Käseliebhaber nicht mehr zu halten.

Der Freund erzählt mir vom Sterben seiner Ehefrau Ende letzten Jahres. Es lagen 26 Tage zwischen der Diagnose Bösartiger Leberkrebs und dem Eintreten des Todes. Nachdem abgeklärt ward, dass keine Metastasen in Magen, Darm und Lungen vorlagen, wurde zur operativen Entfernung der vom Krebs betroffenen Leberteile geraten. Das Krankenhaus erweckte den Eindruck, dass es sich um eine Routineoperation bei guter Prognose und nicht um einen lebensgefährlichen Eingriff handeln würde. Fünf Tage nach der OP war die Ehefrau tot. Während des Eingriffs wurde von den Operateuren bemerkt, dass sich an den beim Eingriff sichtbaren Organen Blutgerinsel zeigten. Die Ärzte baten um nachträgliche Obduktion, da es sich bei den Blutgerinseln offenbar um ein für die Medizin gänzlich neues Syndrom handeln würde und man sehr gerne weitere Organe zwecks medizinischer Forschung überprüfen wolle. Bedenken gab es bei der Patientin vor Zustimmung hinsichtlich ihrer zuvorigen Herzprobleme. Ob diese Herzschwäche durch Herzmuskelentzündungen oder durch Eiweißeinlagerungen ins Herzgewebe her stammten, konnte ich nicht erfahren. Jedenfalls meinte das Krankenhaus, wie der Freund sagte, dass diese Herzprobleme noch das kleinste Problem wären.

Bei mir machte es bei diesem Dreier-Symptom-Set "bingo!": Turbo-Krebs, Organ-Trombosen und Herzschwäche. Der Klassiker. Mir fiel dazu der Buchtitel einer frischen Veröffentlichung der medizinischen Fachliteratur aus der Schweiz ein: "Geimpft – Gestorben". Ich frage den Freund vorsichtig nach der Corona-Spritze. Sie war vierfach geboostert. Ich schwieg zu dem Thema dann aus Pietätsgründen, denn er ist nach der Todesnachricht im Krankenhaus aus dem Fenster gesprungen, wie er sagte, glücklicherweise aus Souterrain-Höhe auf Flachdach. Während ich diese Zeilen schreibe, erfahre ich von meiner Kollegin im Job, dass der Cousin/Onkel ihrer Familie ebenfalls gerade an Leberkrebs gestorben ist; die Zeitdauer zwischen Diagnose und Sterbedatum betrug dort 14 Tage.

Nachdenklich fuhr ich ins Westend zurück, zum ersten Mal vom Löwentor über Nordbahnhofstraße, Wolframstraße, Heilbronner Straße und kam dabei erstmals durch das neue Quartier am Hauptbahnhof. Beängstigende und bedrohliche Architektur, neben der für Mensch, Tier und Pflanze kein Platz mehr gelassen wurde. Nur noch Ausdruck der alten Macht. Nicht mehr Schuttgart, jetzt Trutzgart. Das ist aber nicht neu, seit diese erkalteten Fassaden das Schönheitsempfinden des Wiederaufbaus nach den Bombardierungen von 1944 im Stilkanon der Moderne ersetzt und aufgefressen haben. Ich meine architektonisch damit "meine" Vogelsang-Grundschule, die ich von 1968 bis 1972 besuchte, den Rathaus-Neubau am Marktplatz oder das Ensemble des Kleinen Hauses, das Schauspielgebäude neben der Oper, am neuem Eckensee, mit der Skulptur von Wander Bertoni davor, mit Blick auf den Turm des Hauptbahnhofs, und das damalige Design der Parkbeleuchtung für die Flanierwege mit ihren begonienblütenhaften Lamellen aus Metall, auf Dreispitz-Stativ gesetzt. Wenn man heute im Mittleren und Unteren Schloßgarten flanieren möchte, dann achtet man in der Regel auf anderes.

Man kann den gegenwärtigen Stadtbau eigentlich auch nicht mehr als "Brutalismus" bezeichnen, als verkehrter Gestaltungs-Ausdruck der Moderne, nur weil die damaligen positiven, lebensfreundlichen und effizienten Impulse der Moderne nicht mehr wirken. Stuttgart war damals in den 60er- und 70er-Jahren eine sehr schöne Stadtlandschaft. Mit dem neuen unterirdischen Bahnhof wurde ihr geomantisch beim Unterbrechen des unterirdischen Nesenbach- Wasserlaufs die Seele durchgeschnitten; wie sehr, sieht man an diesem neuen Stadtviertel, dort, hinter dem Bahnhof, sehr deutlich. Und noch ist der unterirdische S21-Bahnhof, um den seit 1995 gekämpft wurde, nicht in Betrieb. Ich hatte, als die S21-Bauarbeiten begonnen wurden, mit mir selbst gewettet, dass vor Fertigstellung denen das Geld dafür ausgeht. Diese Wette scheine ich demnächst zu verlieren; vielleicht habe ich mich auch nur um ein paar Jahre verschätzt. Geld ist gar kein Problem für die alte Macht. Öffentlicher Raum und innerstädtische Verbindungen sollten durch das Wegschaffen der die Stadt zerschneidenden oberirdischen Bahngleise gewonnen werden. In Wahrheit ging es lediglich um Immobilienspekulation auf allen Seiten. Und wo es nicht vorrangig um Immobilienspekulation ging, wie bei der neuen Bibliothek, die mit als erstes Gebäude in Funktion ging, hat man den Eindruck eines Bunkers. Ein Kulturmagazin, in dem man sich auf die Bücher und Texte der Vergangenheit konzentrieren soll. Nur eben, dass "Bunker" heute wieder komplett anders konotiert wird. Die Architektur ironisiert sich selbst als historischer Prozess in Rekordzeit statt als spielerischer Gestaltungswille, wie noch bei der Postmoderne der 1980er-Jahre, siehe Staatsgalerie. Als die interessierten Kreise das S21-Projekt Mitte der 1990er-Jahre öffentlich vorstellten, hat das jeder für einen Witz gehalten. So geht es mir derzeit mit den aktuellen Nachrichten zum Stand der Weltentwicklung in Funk und Fernsehen auch, wieder. Man glaubt es einfach nicht, bis es dann passiert.

Mit gemischten Gefühlen fahre ich nach Potsdam zurück und schreibe diese Zeilen am 8. Mai. 80 Jahre sind auf den Tag genau seit dem Kriegsende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Als mein Geschichtskunde-Lehrer Wolfgang Laipple an der damaligen Schickhardt-Realschule 1977 unsere Klasse fragte, ob, angesichts der schulischen Besprechung von NS und Weltkrieg, so etwas wieder und erneut passieren könne, meinte ich damals als Wortmeldung: Sobald die Zeitzeugen verstorben sind, droht die Gefahr einer Wiederholung. Bei Kontrafunk.radio heute dazu eine Stunde Diskussion mit dem Historiker Gernot Danowski als Moderator, bei dem die Diskutanten einen Rückgang der Jahrestags-Publizistik-Welle aus genau diesem Grunde konstatierten: kaum mehr lebende Zeitzeugen, immer mehr Archivproduktionen; Relevanz schon, aber kein akutes Thema mehr.

Wolfgang Laipple, 1977, im Bild.
Mein Geschichtskunde-Lehrer an der Schickhardt-Realschule, Wolfgang Laipple, 1977, ein Jahr vor der Mittleren Reife, mit dem Weltkriegs-Curriculum, fotografiert auf Kodacolor II mit einer Kodak Instamatic Fotokamera, Format 126, Negativ-Scan 2025 durch ScanDig.

In Potsdam hatte man für lange Zeit den 8. Mai als Tag der Befreiung gefeiert, wenn auch erst am 9. Mai. – Fakt ist, dass es sich um eine bedingungslose Kapitulation handelte. unconditional surrender. Und um eine anschließende Besetzung des Landes, durch Besatzungs-Truppen wie durch Ideen- Besetzungen, die weiter anhielten. Aus der Besetztheit wurde eine Besatzung. Als ich mich heute im Stadtraum von Potsdam bewegen wollte, war ich mit einer Besetzung der anderen Art konfrontiert: Horden von Berlinern überschwemmten die Innenstadt, von der Glienicker Brücke her kommend, mit ihrer Anwesenheit zum Shoppen, Schlendern und Begaffen den Stadtraum, zusätzlich zu den mit zahlreichen Autoreisebussen angekarrten Tagestouristen von sonst wo. Riesige Staus vor und auf allen wichtigen Verkehrskreuzungen; der Verkehr bricht quasi tagsüber zusammen. Das passiert regelmäßig, wenn im Land Berlin gesetzlicher Feiertag ist und im Land Brandenburg keiner, wie heute. Hinzu kamen dann heute noch zwei weitere Besetzungsarten des Stadtraums: die Absperrung eines ganzen Straßenblocks bei mir im Quartier, wieder für Fernseh-Dreharbeiten, wo immer das Gleiche für irgendwelchen TV-Quatsch vor historischer Kulisse redundant produziert wird. Am liebsten SOKO Potsdam. Und dann auch noch die Absperrung unserer Straße direkt vor der Haustür für die Kanalreinigung der Dolen-Regeneinläufe. Früher war ich davon begeistert, wenn der Neue Deutsche Film oder ein Fernsehspiel mal einen Außendreh unter Seltenheitswert im Stadtraum Berlins ansetzte. Heute ist eine hochtourige und aufgeblähte Mobil-Industrie daraus geworden, die zumeist entweder am Staatsfernsehen oder an der staatlichen Filmförderung hängt. Rund 60 Crewmitglieder turnten aus mehr als einem Dutzend Groß-Kraftfahrzeugen heraus am Set herum.

Einen Tag später, am 9. Mai, redigiere ich diesen Text. Und wieder bricht ein Verkehrschaos in der Innenstadt seine Bahn. Dieses mal lag es an den vielen roten und blauen Fahnenträgern, die quer durch die ganze Innenstadt marschierten, bis Sie vor dem russischen Friedhof am Bassinplatz neben St. Peter und Paul ankamen und dort mit Blasmusik und Gesängen Arbeiterkampf-Lieder intonierten. Es wird an den Gräbern der beim Stadtendkampf gefallenen russischen Soldaten dann auch noch ein Fahnenritual praktiziert: Fahnen auf ein Viertel und begleitender Blasmusik. Laute Sprechchöre schallten durch die Straßen. Elektrische Verstärkerstimmen und akustisches Gebrüll. Ein großes, blaues FDJ-Banner wurde von drei Trägern hochgetragen, die Bannerträger in Blauhemden gekleidet. Das wäre in Berlin (West) noch verboten gewesen. Ist es hier anscheinend aber nicht mehr. Dafür sind russische Staats-Fahnen und die Beteiligung von Russen an dem 80-jährigen Gedenken anlässlich des Endes des Endkampfes nun hierzulande verboten, was angesichts der Evidenz von russischen Soldatengräbern mitten in der Stadt schon sehr skurril ist. Die vielen roten Banner tragen daher das IGM-Logo oder andere Symbole statt Hammer, Sichel und Stern. Auch die Antifa Regierungs-NGO läuft mit ihren Symbolflaggen mit. Viel Polizei und Blaublinklicht zum Schutz.

Die Polizisten holen sich im Quartier Coffee-to-go oder turteln dienstlich mit einem girlie am Rande. Die Demonstration rief während ihres Stadtmarsches lautstark zum Generalstreik auf und protestierte gegen Krieg und Kriegsrhetorik. Lange nicht gehört: Arbeiterkampflieder. Ob es wohl eine Internetradio-Station gibt, die nur Arbeiterkampflieder spielt? Nebenan, hinter der roten Telefonzelle, hört der Zustrom von Touristenbussen wieder nicht auf, ständig werden gaffende Tagestouristen in Scharen ins Zentrum der Stadt gebracht. Eben kommt die Nachricht, dass Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren verstorben ist, ebenfalls Dieter Jauch, der langjährige Leiter des Wilhelma, Koyo Kouoh einen Tag später in Basel ebenfalls sehr rasch an Turbokrebs gestorben – und die Nachricht, dass der Ditzinger Maschinenbauer TRUMPF 1.000 Mitarbeiter rund um Stuttgart entlassen will. In Potsdam liegt das Auslandseinsatzkommando der Bundeswehr. „Getriebe Der Welt Uneinholbar Tödlich Dem Menschen.“

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