Der Enkelsprung: Fotografenmeister Karl Polzer, Stuttgart 1954

Der Enkelsprung: Fotografenmeister Karl Polzer, Stuttgart 1954
Karl Polzer, Ausweisbild des Bundespersonalausweises von 1953. | Quelle: Familienarchiv Joachim Polzer

Von meinem Großvater väterlicherseits, Karl Polzer, existiert aus dem Jahr 1954 eine berufs-biografische Selbstauskunft in Form einer schriftlichen Eidesstattlichen Erklärung, datiert auf den 12. Juni 1954. Ziel und Zweck dürften seine Bestrebungen gewesen sein, in der Stuttgarter Reinsburgstraße als Fotografenmeister mit einem Foto-Atelier spät einen beruflichen Neustart wagen zu wollen, auf Initiative und mit Unterstützung seines Sohns Erhard Polzer, der bereits seit 1952 in Stuttgart lebte.

Mein Vater Erhard war es, der seine Eltern Anna und Karl aus dem nach der Flucht zugewiesenen Wohnort, dem bayerischen Geisenfeld, schließlich auch seinen Bruder Kurt nach dem Ende seiner sowjetischen Kriegsgefangenschaft, im Zuge von damals so genannter Familienzusammenführung nach Stuttgart brachte.

Ende Oktober 1954 wird dafür vom Wohnungsamt Stuttgart eine Wohnungsnutzungsgenehmigung als "A-Umsiedler Bayern" erteilt. Vom 16.11.1954 datiert die Gewerbeanzeige für "Foto-Ateliler RAFAEL" in Stuttgart durch den Sohn Erhard. Die Lokalität in der Reinsburgstraße und eine nach Kriegsschäden wieder hergerichtete Altbau-Mietwohnung für die zusammengeführte Familie im Stuttgarter Westen waren bereits angemietet worden. In jenen Wochen zogen meine Großeltern von Geisenfeld nach Stuttgart um.

Während die Prüfung einer Anerkennung der Fotografenmeister-Berechtigung, ausgestellt von der Handwerkskammer in Olmütz (aka Olomuc, Tschechien), durch die Handwerkskammer in Stuttgart nach bundesdeutschem Recht noch lief – ordnungsrechliche Voraussetzung für den gewerblichen Betrieb eines Fotoporträt-Ateliers für Laufkundschaft in Westdeutschland – stirbt mein Großvater am 26. Februar 1955 um 16.00 Uhr im 65. Lebensjahr an einer Magenerkrankung im Krankenhaus in Stuttgart-Bad Cannstatt.

Mein Vater Erhard war damals gerade 29 Jahre alt geworden und weit davon entfernt, Fotografenmeister bald selbst sein zu können. Das Jahr 2025 markiert damit das 70. Todesjahr meines Großvaters. Ich habe ihn nicht selbst kennenlernen dürfen; in Kolportagen hörte ich über ihn, dass er eine große Aversion gegen aufkommenden Wind, Sturm hatte. Die Bundespersonalausweis von 1953 nannte eine Körpergröße von 165 cm. Die Berufsfotografen-Fackel hatte mein Vater Erhard dann nach 1955 weitergetragen, wenn auch ohne Meistertitel, ohne Laufkundschaft. 2026 wäre mein Vater Erhard Polzer 100 Jahre alt geworden. 1955 war auch das Jahr des Baustarts für den Stuttgarter Fernsehturm, weithin sichtbares Symbol für den bevorstehenden Siegeszug der elektronischen Medien, letztlich auf Kosten jener Medien, die auf Materieträger basieren, wie die gedruckte Tageszeitung, das gedruckte Buch und eben auch Fotografie als Beruf und Gewerbe betrieben.

In der Eidesstattlichen Erklärung von Karl Polzer vom 12. Juni 1954 heißt es in der Einleitung [Umlaute und Orthographie wurden angeglichen]:

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"Ich, Karl Polzer, geboren am 22.06.1890 in Olmütz, selbständiger Berufsfotograf, erster Vorsitzender der Berufsfachgenossenschaft der Fotografen des Landes Mähren, bestätige an Eidesstatt folgendes:

Meine Lehrzeit von 1904 mit [sic! - gemeint: bis] 1907 in Olmütz im k.u.k. Hof- und Kammerfotograf, S. Wasservogel, Olmütz, Oberring 6.
Im Dezember 1907 legte ich die Gesellenprüfung mit bestem Erfolg ab.
Sommer 1908 trat ich die erste Gehilfenstellung bei Firma Nolte,
Hannover, Holzmarkt, Am Schlosshof, an.
Nach drei Jahren kam ich zu Firma Margraf in Zelle, Hannover.
Anschließend eineinhalb Jahre in Firma Foto-Schmeck, Siegen im Sauerland, Bahnhofstraße, tätig.
Bis einige Monate vor Kriegsausbruch 1914 war ich bei Firma Huth, Lüdenscheid/Westfalen in Stellung.
Während des Krieges als Regimentsfotograf für Geschichte bei Inf.Rgt. 13.
Nach dem ersten Weltkrieg war ich drei Jahre als Gehilfe in Olmütz tätig (Name der Firma ist mir entfallen)."


Mein Großvater Karl Polzer war bei Kriegs- und Monarchie-Ende 1918 28 Jahre alt. Er wurde in eine monarchistische Gesellschaft des Kaiserreich in k.u.k. Österreich-Ungarn hineingeboren und eben auch in die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs in verschiedenen Städten auf seinen Wander- und Lehrjahren hinein sozialisiert. Das prägte ein Mindset sehr: Zum Zeitpunkt des Monarchie-Endes war er ein erwachsener Mann im mittleren Alter. Darin war er Kind seiner Zeit.

Technisch war die Glasplatten-Fotografie mit – heute so verstandenen – Großformat-Kameras in seiner Gesellenzeit zwischen 1904 und 1918 in der Porträt-Fotografie führend, eben auch mit den Vorteilen der Negativretouche auf Glasplatten zur "Verschönerung" von physiognomischen "Unebenheiten" der Porträtierten. Diese Technik bedingte jedoch eine bestimmte Auffassung von Fotografie und eine bestimmte Mentalität, Haltung zur Fotografie. Erich Salomon und Weegee sowie Chargesheimer und Herbert Tobias kamen mit ihren innovativen Fotografie-Zugängen dann erst später, im Falle der letztgenannten erst nach Beendigung noch eines weiteren Weltkriegs. Insofern dürfte meinem Großvater die Kriegstätigkeit als "Regimentsfotograf für Geschichte" Abwechslung geboten haben, im  Auftrag der "Geschichte" fotografisch tätig zu sein.

Vielleicht kann man ihn als typischen Vertreter des lokalen Fotografenhandwerks zu einer Zeit verstehen, als das Hervorbringen von repräsentativen, fotografischen Personen-Aufnahmen für das etablierte Bürgertum die Aufgabe von in diesen Techniken aus Licht und Optik eingeweihten, erfahrenen und niedergelassenen Spezialisten war.

Karl Polzer, Kriegsfoto als Soldat, Umbruchzeit 1918. Wie sah seine Lebensperspektive mit 28 Lebensjahren zu Kriegsende, am Ende der Monarchie und bei Gründung des tschechoslowakisch-republikanischen Nationalstaats aus? Welche Prägungen wirkten weiter? –|– Scan eines kolorierten sw-Abzugs aus dem Familienarchiv Joachim Polzer, Oval-Tableau der Familie.

Die neuen republikanischen Zeiten nach 1918, ökonomisch-politische Nachkriegswirren und die Staatsgründung der Tschechoslowakei brachten viel Veränderung, aber auch Aufbruch, neue Chancen für sein Leben in der Stadt Olmütz (aka Omoluc). Er führt weiter aus:

"Im Jahre 1922 (Januar) legte ich bei der Handwerkskammer in Olmütz die Meisterprüfung ab.
Am 15. März 1922 eröffnete ich den selbständigen Betrieb eines Fotoateliers mit handelsrechtlich gesch. Atelier-Namen Foto-Atelier RAFAEL, Inh. Karl Polzer, Olmütz, Hans Knirschstraße 37.
Das Geschäft befand sich dreiundzwanzig Jahre ununterbrochen in meiner Hand und wurde sieben Tage vor dem Einmarsch russischer Truppen von mir geschlossen.
Während dieser Zeit wurden ca. dreissig Lehrlinge in meinem Beruf von mir ausgebildet.
Als Vorsitzender der Fachgenossenschaft habe ich Prüfungen mit abgenommen, deren praktischer Teil zumeist in meinem großen Geschäft abgehalten wurde.
Diese Angaben mache ich heute nach bestem Wissen und Gewissen."


Am 5. Juni 1922 heiratete er Anna Karger; im Februar 1923 kam mein Onkel Kurt Polzer zur Welt, mein Vater Erhard dann im Februar 1926. Das Jahr 1922 war im Alter von 32 Jahren damit "sein besonderes Jahr": endgültiger Berufsabschluss, Selbständigkeitsstart, Geschäftsgründung, Verankerung am Ort in Beruf, Eheschließung und Nachwuchs.

1945 ging dieser Lebensabschnitt im Alter von 55 Jahren entschieden und abrupt zu Ende. Die "saturnalen", naturzeitlichen Einschnitte in der Biographie zum Radix-Return von Saturn sind hier mehr als deutlich. Zuvor wurde nach der Besatzung des Landes durch die deutsche Wehrmacht und damit einhergehenden, verwaltungsrechtlichen Änderungen im Februar 1940 ein Gewerbeschein-Tausch gegen eine rein deutschsprachige Version durchgeführt und am 11. Mai 1940 der Erwerb der Deutschen Staatsbürgerschaft des Deutschen Reiches testiert.

1945/1946 haben die Vertreibungen aus Olmütz mit der Flucht nach Deutschland die Familie nach Geisenfeld im Landkreis Pfaffenhofen in Oberbayern verschlagen. Wohnadresse war dort zunächst die Zieglerstraße 312, zuletzt 1953 dann die Rosengasse 57. Mit Auftragsarbeiten zur Hand-Kolorierung von schwarz-weiß-Abzügen mittels Eiweiß-Lasurfarben für eingeführte Münchener Fotografengeschäfte verdiente sich mein Großvater zwischen 1947 und 1954 in Geisenfeld eine karge Lebensgrundlage. Überliefert sind Geschäftskontakte zum Fotografen Mathias Steigenberger in München als Positiv-Retoucheur und Arbeiten als Colorist für die Süddeutsche Semi-Emaille-Fabrikation.

Kolorierte schwarz-weiß-Abzüge kennt man vielleicht noch von alten Kino-Aushangfotos, wo sich für den Kinovertrieb von damals noch seltenen Farbkinofilmen noch kein, damals sehr teurer, Farbdruck der Aushangfotos mit Auflagenhöhe lohnte. Postiv-Farbabzüge von Foto-Farbnegativen anzufertigen, war in den ersten rund zehn Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg noch etwas sehr exzeptionelles, technisch sehr aufwändiges und damit auch sehr kostspieliges. Wollte man Farbigkeit in der Fotografie auf Vergrößerungs-Abzügen oder Kontaktprints sehen, war die Handkolorierung von schwarz-weiß-Positivabzügen damals die bevorzugte Methode. Die Kurierdienste zwischen Geisenfeld und München für diese Lohnarbeiten übernahm in der Regel meine Großmutter Anna mit der Eisenbahn. Ich meine, dass mein Großvater ein guter Handwerker der Fotografie war, insbesondere in den Retouchetechniken bei der direkten Negativretouche auf Glasplatten-Negativen, den Positivkorrekturen wie z.B. dem Ausflecken von weißen Negativblitzern durch Staubablage oder eben im Farbverständnis bei der Anwendung von Eiweiß-Lasurfarben für Handkolorierungen.

Mein Großvater setzte damit ab 1904 die handwerkliche Tradition seines Vaters, auch Karl Polzer, fort, der als gewerblicher Schuhmacher im Olmützer Stadtteil Neugasse arbeitete. Das Handwerkliche der Familientradition wurde dabei um die damals verhältnismäßig neue Opto-Foto-Chemie-Technik in's Kunsthandwerkliche erweitert, zumal die Einführung von Elektrizität und des elektrischen Lichtes die Aterlierarbeit bald erheblich bei der Anwendung von Fotolicht, dem Lichtsetzen, erleichtern würde, ja überhaupt die Verfügbarkeit von elektrischem Kunstlicht für die Arbeit im Foto-Atelier, im Foto-Labor wie auch für das städtische Leben generell einen Quantensprung am Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutete.

Die Mutter des Fotografen Karl Polzer, meine Urgroßmutter also, war Ottilie Polzer, geborene Krones, Tochter des Albert Krones und von Paulina Krones, geb. Uwizl. Paulines Vater war ein Anton Uwizl. Auch in dieser Familienlinie gehen die direkt auf Geburtsurkunden zurückgehenden Abstammungsspuren für mich bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Gleiches gilt für den Urgroßvater und Schuhmacher Karl. Der war Sohn des Alois Polzer und von Maria Polzer, geb. Hausner. Marias Vater war ein Josef Hausner.

Ethymologisch stammt der Nachname Polzer, also die Linie von Alois Polzer, aus der Steiermark. Dort gab es Wanderungsbewegungen nach Osten, auch nach Böhmen und Mähren in k.u.k. Österreich-Ungarn oder zeitlich bereits vor der Doppelmonarchie. Die europäische Lautverschiebung bei Konsonanten brachte es mit sich, das die steirischen Bolzenschmiede, die mit ihren Schmiedehämmern sowohl auf die zu formenden Bolzenstifte wie auch – verbal – auf eine Obrigkeitsübergriffigkeit gut draufhauen konnten – generell als Steirer für renitent gehalten wurden –, im konsonantischen Wortlaut von den Bolzers in Österreich zu den Polzers der deutschen Schriftsprache in Mähren wurden. Für mich ist das eine weitere österreichische Familienwurzel im doppelten Enkelsprung.

Fotoseite des Mitgliedsausweises der "Fachgenossenschaft der Photographen mit dem Sitze in Prerau" aus dem Jahr 1944, ausgestellt am 27. Januar 1944. – Das Ausweisbild zeigt Karl Polzer Im Alter von 53 Jahren. 1945 kam dann der große Lebenseinschnitt: Verlust von vertrauter Umgebung, Heimstätte, Berufstätigkeit, Unternehmen, Vertreibung und Flucht. | Dokument-Scan aus dem Familienarchiv Joachim Polzer. Retouche des Ausweisbilds lag bereits so vor.

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