Lucy Mohl, Pionierin der Filmpublizistik im Internet: Seattle — 1994, 1995 und 1998

Joachim Polzer am Schreibtisch.
Von Lucy Mohl hatte ich lange nichts gehört. Jetzt war ich sehr überrascht, in einem aktuellen Medienbericht vom Juni 2025 bei heise.de wieder von ihr zu lesen. Lucy Mohl hatte ich im Juni 1998 beim "Film Makers Forum" als Rahmenprogramm des 24. Seattle International Film Festivals (SIFF) kennengelernt, wo wir beide Podiumsteilnehmer gleich bei der ersten Panel-Session "Film im Cyberspace" am 11. Juni 1998 waren. Dort präsentierte sie zunächst eine Demo Ihrer Website film.com mit anschaulicher Beamer-Großbildprojektion. Film.com hatte sie als Projekt 1994 gegründet, gerade als der NCSA MOSAIC HTML-Browser zu Netscape wurde. Aktuell konnte sie damals den Stand der Integration von Streaming-Video auf ihrer filmpublizistischen Website zeigen. Streaming-Video auf einer Web-Plattform integriert: damals eine Sensation.
Real Networks, der Pionier des Streaming von Audio und Video im Internet, hatte film.com im Jahr zuvor, 1997, übernommen. Real Networks hatte nicht nur eigene, proprietäre Codecs für Audio und Video im Angebot, plus proprietäre, kostenpflichtige Server-Technologie, die damit arbeiteten, dazu eigenes Streaming-Hosting für Full-Service; sie hatten zusätzlich eigene Player-Clients wie den Real.Player für verschiedene Betriebssysteme zum Download (damals ganz neu) und auf den damals üblichen CD-Software-Sammlungen (meist als Supplement von Computerzeitschriften, die diese ganze Medienrevolution erklären durften). Real Networks bekam inzwischen auch Ambitionen, selbst Content-Anbieter mit Videokanälen zu werden, als Schaufenster dafür, was das Unternehmen konnte und um das Geschäft mit der eigenen Technik an proprietären Applikationen anzukurbeln. Dafür war die Akquisition von film.com seitens Real Networks eigentlich ideal, weil sie das entsprechend passende, redaktionelle Umfeld schuf. Im Jahr 2000 hatte Real Networks nach eigenen Angaben einen Streaming-Marktanteil von 85 % für sich reklamiert.
Soweit die Theorie: Die Markt-, Technik- und Medien-Entwicklung hat dann allerdings nach der Jahrtausendwende andere Wege eingeschlagen, ebenfalls die Beantwortung der Frage nach der Integration von Filmpublizistik mit Distributionswegen jener Filmwerke, auf die sie stets bezogen war und zu denen sie sich, mit denen sie sich referenzierte.







4. Film Makers Forum beim 24. Seattle International Film Festival, am 11. Juni 1998 in der Broadway Performance Hall, Seattle; Thementag:"The Sound View", Panel 1: "NETWORK - A program on cinema in cyberspace". Lucy Mohl gibt eine Präsentation mit Demo zum Stand von film.com nach der Übernahme durch das Streamingunternehmen Real Networks. Moderator des Panels war Bart Cheever (damals von D.FILM). Weitere Panelteilnehmer waren Tara Veneruso (Dokfilmerin, z.B. "Janis Joplin Slept Here" und damals bei Next Wave Films), Christine Panushka (artist, filmmaker, animator, academic teacher) und – Yours Truly – Joachim Polzer, damals ex-Volontär bei imdb.com, der auch diese Fotos aufnahm.
Der frühe Vogel fängt den Wurm, so heißt es. Es gibt allerdings keine Garantie dafür, dass der Erfolg des frühen Wurmfangens im Verlaufe eines sehr langen Tagesverlaufs auch weiter anhält. Real Networks existiert als Unternehmen noch heute, allerdings nurmehr als nicht mehr börsennotierter Anbieter von KI-Lösungen zur Verhinderung und Aufklärung von Ladendiebstählen. Ein weiter Weg von der Glitzerwelt des Kinos. Film.com ist als Website inzwischen verwaist; ein Domain-Makler ist mit dem Verkauf der Domain beauftragt. Dessen "Asking Price" für die Domain film.com beträgt derzeit zwei Millionen US-Dollar; ein sehr später Versuch, die Akquisitionskosten für film.com durch Domain-Verkauf wieder hereinzuholen. Ob Film, Kino und film.com gegenwärtig und künftig noch so sexy attraktiv sind, um mit diesem eingeforderten Marktwert für die eigene Hausanschrift gegen die geballte Macht von KI antreten zu können?

Obwohl film.com heute publizistisch verwaist ist, lässt sich die Geschichte der Website durch die Wayback Machine des Internet Archive nachvollziehen. Es existieren (als Funktion der Wayback Machine) Snapshots von film.com, zum Beispiel vom 10. Februar 1999, 27. April 1999 und vom 29. Februar 2000. Bereits 2005 hatte sich der cinephil-publizistische Charakter von film.com stark geändert; die Domain wurde einfach auf movies.real.com weitergeleitet.
Nach rund 30 Jahren filmpublizistischer Ausdifferenzierung im World Wide Web mag das filmjournalistische Konzept dieser Pionier-Website einem als nichts Besonderes mehr erscheinen. Für die heutige Ausdifferenziertheit der Filmpublizistik im Netz nach den drei Dekaden lassen sich genug Beispiele finden: Das Lebenswerk des US-Filmkritikers Roger Ebert wird unter rogerebert.com von seinem Estate weitergeführt; die australische eZine Senses of Cinema, Websites wie World of Reel, TSPDT für „They Shoot Pictures Don’t They“ oder die Veröffentlichungsarchive von ehemals klassischen Filmzeitschriften wie epd-Film, Filmdienst, Cahiers du Cinema, Sight and Sound vom BFI oder CINEASTE aus New York City; die Themen-Website filmportal.de vom Frankfurter "DFF - Deutsches Filminstitut & Filmmuseum" – und Webpublikationen wie Kunst und Film, Sinn und Cinema, critic.de oder Schöner Denken sind weitere Beispiele. Bei Schöner Denken gibt es ein Verzeichnis deutschsprachiger Filmpodcasts und ein deutschspachiges Filmblogverzeichnis – sehr lobenswert. Dabei ein Gruss an die Kollegen vom Podcast Muss Man Sehen, die sich gerade um eine Vernetzung der Filmpodcasts bemühen. Auch der deutsche Filmkritiker-Verband betreibt eine Website mit Lesenswertem, oft eben auch Nachrufe auf Filmpublizisten, der Schwanengesang trotz Nachwuchspreisen. Beim ÖRR ist von den Resten der Filmredaktionen nicht mehr viel übrig geblieben, vielleicht und oft mit angespitzen Ohren gehört: Vollbild.
Mit der Erweiterung um „Soziale Medien“ landeten die Cinephilen schließlich in den letzten Jahren bei so etwas wie Letterboxd, das offenbar wesentlich intensiver als filmhistorische Buchveröffentlichungen derzeit in der Lage ist, die junge Generation an Filmgeschichte zu interessieren. Für filmhistorich Interessierte ist das deutsche Fernsehen, zumal der ÖRR, inzwischen fast ein Totalausfall, kaum mehr Zugang zu alten, historischen Filmwerkquellen bietet, mit wenigen Ausnahmen, ja ARTE, so lange es diesen TV-Sender noch gibt.
Zunächst galt es jedoch, Mitte der 1990er-Jahre, das Internet mit dem damals neuen HMTL-basierten Technologiedienst World Wide Web als ganz neues Medium für Filmpublizistik zu erforschen, zu erobern, mit Hypertext durch URL-Links sich im Cyberspace, wie er damals hieß, zu verankern und multimedial mit Standbildern, Film-Clips oder frühen 3-D-Simulations-Modellen zu arbeiten, dort und dafür Publikations-Formen und -Formate zu entwickeln, Themenspektren auszuprobieren, mit Reflexionsebenen zu experimentieren, ohne dass es dafür Role Models oder strukturelle Kopiervorlagen mit und in diesem Medium bereits gegeben hätte. Alles war dabei damals neu und anregend und aufregend. Eben Neuland besiedeln, ausprobieren, mit ungewissem Ausgang.







Betriebsführung durch die Technikabteilungen des Streamingunternehmens Real Networks, am Firmensitz in Seattle, durch einen der IT-Leiter (SysOps) des Unternehmens: eine junge Branche, ein junges Unternehmen im Aufbau. Fotos: Joachim Polzer, Juni 1998
Das redaktionelle Spektrum von film.com entwickelte sich dabei aus und mit: Filmrezensionen, Überblick der aktuellen Kinostarts, Berichte von Dreharbeiten, Festival-Vorberichte und -Nachbewertungen, Reports von Weltpremieren, Schilderungen des Wettrennens um Filmpreise sowie die anschließende Würdigung von Preisverleihungen, aktuelle Kino-Einspiel-Ergebnisse, Features über aktuelle Kino-Tendenzen, Genre-Übersichten sowie Entwicklungstrajekte der Kinobranche, Heimkino-Veröffentlichungen – auch die DVD war damals ein ganz neues Publikationsmedium, Fernsehpremieren von Kinowerken, Werk-Würdigungen relevanter Filmautoren, Nachrufe auf bedeutende Filmregisseure, Sonder-Rubriken wie etwa das Kino aus filmmusikalischer Sicht: das Soundtrack-Kino also, Kinderfilm-Rubriken, Berichte über Kino-Renovierungen und -Wiedereröffnungen oder -Neueröffnungen, Film-Clips, Film-Trailer, Videoberichte.
Der aktuelle Beitrag von René Meyer vom 03. Juni 2025 auf heise.de, in dem Lucy Mohl mit film.com auftaucht, referiert jenen Moment, als am 03. Juni 1995 zum ersten Mal ein Spielfilm, der am selben Abend auf dem SIFF Festival-Premiere feierte, live über das Internet, quasi synchron, gestreamt wurde. Das war vor 30 Jahren. Die dafür benutzte Technologie stammte dabei noch von der Cornell University an der Ostküste der USA und nutzte deren frühe Videokonferenz-Software CU-SeeMe. Beim lokalen Internet-Hoster "Point of Presence" mit T1-Anbindung wird dafür ein Server als "Reflektor" eingerichtet, um die CUSeeMe-Direktverbindung zwischen zwei Rechnern (also zwischen lediglich zwei IP-Nummern) an viele Empfänger versenden zu können. Ein weiterer "Reflektor" wird andernorts an einem College zugeschaltet. Die Akademia-Welt und ihre IT-Abteilungen für die Ausbildung von (Software-)Ingenieuren war das Urnest der Datenvernetzung vor der Öffnung für den öffentlichen Zugang zum Internet durch die Bevölkerung als Massenmedium. Auf diese dafür bereits gelegte Infrastruktur konnte man sich daher verlassen.
Koordiniert wurde das Ganze vom SIFF-Sponsor Silicon Graphics, von Apple Computer und einem Consulting-Unternehmens in Los Angeles. Verantwortlich bei "Point of Presence" war Firmeninhaber Glenn Fleishman. NBC-News berichtet national an dem Abend von diesem Event. Die Zukunft wird demonstriert. Einer der vielleicht 100 Livestreams erreicht den europäischen Kontinent im US-amerikanischen Pavillion während des Cannes Film Festivals in Frankreich, in der sehr späten Nacht, am Folgetag, gegen 3 Uhr morgens, wenn man der stolzen, nachträglichen Verkündung im gedruckten SIFF-Festivalkatalog von 1998 glauben darf.
Real Networks wurde, wie film.com, ebenfalls bereits 1994 gegründet, und zwar von Rob Glaser; sie konnten den ersten Audio-Livestream allerdings erst am 05. September 1995 anlässlich einer Sportübertragung realisieren. Video-Streaming mit dem Real.Player wurde 1997 angekündigt und war erst ab diesem Jahr dann möglich. Die Präsentation von Lucy Mohl beim Film Makers Forum vom 11. Juni 1998 war daher eine Top-Notch-Demo des damals Allerneuesten, state-of-the-art in Sachen Videostreaming.
Der Kinofilm, der da am 03. Juni 1995 um 18.00 Uhr PST erstmals live gestreamt wurde, war Party Girl (USA 1995) in der Regie von Daisy von Scherler Mayer; nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Kinofilm in der Regie von Nicholas Ray aus dem Jahre 1958. Party Girl (1995) war ein Independent-Movie mit einem Budget von rund 150.000 US-Dollar. Die Produzenten des Films, die Regisseurin und die Hauptdarstellerin Parker Posey waren schnell von der Livestreaming-Premiere als Publicity-Event zu überzeugen. Der damalige Festival-Direktor des SIFF und Mitarbeiter des Festivalträgers Seattle Cinema, Carl Spence, war einfach, wie viele andere auch, sehr neugierig, wie so etwas klappt, einen Kinofilm von einem Studio auf einen Computer zu streamen. Er konnte das Ausgangssignal im Studio mit dem Eindruck vergleichen, wie der Stream mit Zeitverzögerung aus dem Internet auf seinem Computer zurück landete und war in dem Moment einfach sehr verblüfft. Es war der Anfang von etwas wirklich Neuem. Ein Eindruck, den auch Internet-Provider Glenn Fleishmann teilte.
Aus Anlass der 4K-Restaurierung von Party Girl (1995) mit der Neuveröffentlichung des Filmtitels als BluRay-Disk beim US-Boutiquen-Label "Fun City" hat Soraya Roberts am 10. März 2023 für das Blog "Defector" ebenfalls an diesen denkwürdigen Abend des 03. Juni 1995 erinnert und weitere Details recherchiert.
Lucy Mohl war von den technischen Einschränkungen dieses Beginns – wenige Bilder pro Sekunde als Bildfrequenz, nur in Schwarz-Weiß, stark komprimierter Ton, eine Bild-Auflösung von lediglich 240 x 320 Pixeln – nicht besonders entmutigt. Sie verglich die Lage von 1995 mit Eadweard Muybridge’s "Horse in Motion". Sie ahnte damals bereits eine Zukunft, in der Streaming einfach übernehmen werde.







Redaktionsbesuch bei film.com durch die Panelisten des Film Makers Forum: Moderator Bart Cheever, Tara Veneruso, Christine Panushka, Lucy Mohl, zusammen mit einem Redakteur von film.com, am Firmensitz von Real Networks in Seattle (Wash., USA), im Juni 1998 - Fotos: Joachim Polzer
René Meyer schreibt in seinem Text bei heise.de:
„Das SIFF kooperiert bereits mit dem Online-Magazin Film.com der Journalistin und Netzwerkerin Lucy Mohl. Sie verlässt Anfang 1994 das Fernsehen, um sich dem Internet zu verschreiben, und gilt in der Branche als Mentorin für das Internet. Sie ist die Anlaufstelle, bei der sich etwa Werner Herzog über seinen IMDB-Eintrag beschwert.“
Die Lokalzeitung Seattle Times berichtete am 03. März 1995, dass die regelmäßige Filmsendung von und mit Lucy Mohl "Film at 5" bei KING-TV, als Kanal 5 und lokales NBC-Affilliate in Seattle, ab sofort eingestellt wurde, weil sie das Fernsehgeschäft insgesamt verlassen habe, um sich ganz ihrem neuen Internetprojekt "Film.com" zu widmen. Der kurze Zeitungsbeitrag nennt ganz schick sogar schon den URL von film.com, für die wenigen neuen "Net surfers" unter den Zeitungslesern.
Für KING-TV hatte Lucy Mohl 16 Jahre lang gearbeitet, meistens als Filmkritikerin oder als Kulturberichterstatterin. Lucy Rebecca Mohl, geboren 1959 in Seattle, war von 1991 bis 1995 schließlich bei NBC auch "syndicated film critic": Ihre Filmkritiken im Fernsehen wurden zuletzt also auch von vielen weiteren NBC-Stationen in den ganzen USA wiederholt, einschließlich dem damaligen NBC News-Channel mit nationaler Abdeckung. Für ihre Fernseharbeit wurde sie 1987 bereits mit einem EMMY Award der National Academy of Television Arts and Sciences ausgezeichnet.
So einen Wechsel des Mediums hinzulegen, war riskant aber typisch für damalige Zeit des medialen Umbruchs. Eine komplett neue mediale Welt unter neuen Regeln war zu erobern, zu erschließen und zu besetzen, ganz amerikanisch. Mit unbekanntem Ausgang. Auch Jeff Bezos wechselte von der US-Ostküste als Hedgefonds-Manager nach Seattle und zog dort mit zwei Tischböcken zum Umpacken als Online-Buchhändler Amazon.com Inc. auf. Der Großraum Seattle war traditionell ein bedeutender Pazifikhafen für Rohstoffe, dann die Heimstätte der Boeing Flugzeugwerke und schließlich, ab den 1980er-Jahren, auch Ort des Hauptquartiers von Microsoft. Dann kamen Amazon.com Inc. und Starbucks Coffee. Der ehemalige Microsoft-Mitarbeiter Rob Glaser zog in Seattle dann 1994 Real Networks auf. Die eisigen Winde des Winters mit ihrer Selbstmörder-Stimmung hier in der Region Pacific Northwest sind stets ein fühlbarer Unterschied zu Nord-Kalifornien und dem dortigen Lebensstil im Silicon Valley gewesen. – Jetzt aber, im Juni 1998, war Sommer und das Leben konnte sich auch Draußen abspielen. Kein Wunder, dass das SIFF ein Spätfrühlings-Sommerfestival wurde, manchmal auch in zeitlicher Überlappung zu Cannes.









Die "Space Needle" ist das Wahrzeichen von Seattle. Die Eröffnung war am 21. April 1962 zum Beginn der Weltausstellung Century 21 Exposition (aka Seattle World's Fair). Der Aussichtsturm mit Restaurant hat eine eigene Website: https://www.spaceneedle.com/ – Fotos oben von Joachim Polzer, der einen Monat nach der Eröffnung in dieses Space-Needle-Zeitalter hineingeboren wurde. – Juni 1998.
Das Seattle International Film Festival ist eines der großen und relevanten Filmfestivals in der USA; die"Golden Space Needle Awards" wurden und werden nach Abstimmung als Publikumspreis vergeben. Das Programm der 24. Ausgabe von 1998 brachte vom 21. Mai bis 14. Juni eine gute Mischung an Filmen der Zeit: In der Festival-Hauptsektion "Zeitgenössisches Weltkino" stellte Michael Haneke für Österreich Funny Bones vor, Gods and Monsters von Bill Condon aus den USA, zehn Spielfilme aus Spanien, zehn aus Frankreich, Die Reise zum Anfang der Welt von Manoel de Oliveira aus Portugal, vier Filme aus Japan, zwei aus Mexiko, zwei aus dem Iran, darunter Der Spiegel von Jafar Panahi. John Greyson mit Uncut für Kanada. Bei den Spezial-Events dann Smoke Signals von Chris Eyre als Gala; bei den Archivpräsenationen Nosferatu (1922) von F. W. Murnau mit Live-Musik, plus Jour de Fete, Nights of Cabiria, Rashomon und White Witch Doctor (1953, Regie von Henry Hathaway). Dann eine "Marathon Präsenation": Kingdom I und II von Lars von Trier für Dänemark mit zusammen 561 Minuten Laufzeit. Bei den Dokumentarfilmen: Inspirations von Michael Apted, Die Salzmänner von Tibet von Ulrike Koch, Frank Lloyd Wright von Ken Burns und Lynn Novick, Out of the Past von Jeffrey Dupre und sex/life in LA von Jochen Hick.
An ein Filmwerk, das ich damals in Seattle gezeigt bekam, erinnere ich mich noch heute besonders: In der Sektion "New Directors Showcase" konnte ich am 25. Mai, mittags um 12.30 Uhr, den deutschen Festivalbeitrag Winterschläfer in der Regie von Tom Tykwer – mit den Schauspielern Heino Ferch, Ulrich Matthes und Josef Bierbichler – erstmals sehen. Einen deutschen Film mit viel lokaler, sprachlicher, landschaftlicher, jahreszeitlicher "Atmosphäre" so weit weg von Deutschland im ausländischen Kontext und mit dem dortigen Festivalpublikum gemeinsam schauen zu können, war schon eine Erfahrung für sich. Darüber hinaus hat mich das Hin-und-Her um die in dem Werk behandelte, existentielle Thematik Schicksal, Fügung und Synchron-Abläufe sehr fasziniert und mir erschien damals Tykwer fast auf Augenhöhe mit Kieslowski und Antonioni zu sein. Jede weitere Produktion von Tykwer hatte mich dann jedoch über die Dekaden diesbezüglich sehr enttäuscht, in zunehmendem Maße. Ich finde, nach wie vor, Winterschläfer war sein bester Film. Nachtrag: Damals wurden noch 35-mm-Filmkopien weltweit physisch versendet, um an Festivals für Kinopräsentation teilnehmen zu können. Diese Kanister oder Kartons mit 35-mm-Filmkopien waren rund 25 bis 35 Kilogramm schwer, pro Kinofilm, je nach Laufzeitlänge und Format des Films. Ja: Lawrence of Arabia im 70-mm-Format wog schwerer.
Während die Stadt Seattle mit dem „Mayor’s Film und Video Office" und der Bundesstaat Washington mit dem "Washington State Film Office" zwei Filmboards betreiben, die die Filmproduktion vor Ort als Wirtschaftsfaktor erleichtern sollen, wurde das Seattle International Film Festival und andere lokale Filmschauen damals von Seattle Cinema als Träger organisiert und finanziert.
Heute operiert das SIFF eine eigenständige nonprofit arts organization nach Artikel 501(c)(3) des US-Steuerrechts und betreibt derzeit ganzjährig zudem vier Programmkinos in Seattle, mit viel Art House, Repertoire und Experimentellem.
Auch damals konnte bereits auf einen breiten und stabilen Unterstützerkreis von zahlenden Mitgliedern, Donatoren und privaten wie unternehmerischen Sponsoren zurück gegriffen werden. Gelenkt wurde Seattle Cinema damals durch sein Executive Committee. Lucy Mohl war dort seit 1993 Gremienmitglied und bekam seitens Seattle Cinema für ihr Startup film.com eine Anschubfinanzierung zugebilligt, um mit diesem Seed Money film.com im Jahr 1994 gründen zu können. Die Verflechtung von SIFF und film.com half dabei, die Livestreaming-Premiere vom 03. Juni 1995 gemeinsam anzuschieben. Im Festivalkatalog von 1998 wurde der Online-Abruf von Kurzfilmen des Festivals als Streaming mit Real-Technologie auf film.com für die Zeit nach dem Festivallauf angekündigt. Mit diesem Seed Money stellte sich jedoch nach spätestens zwei bis drei Jahren dringend die Frage einer weiteren und nachhaltigen Finanzierung des Projektes. Die Entdeckung des „Cyberspace“ durch die werbetreibende Industrie war damals ebenfalls noch ganz am Anfang aller weiteren Entwicklungen. Sich auf Abonnements oder Spenden seiner neuen Leserschaft zu verlassen, wie das die heutigen Alternativmedien und Blog-Plattformen tun, war ebenfalls viel zu früh, weil der Medienbegriff für ein Nutzerpublikum und die eigene Leserschaft als solche zunächst überhaupt erst entwickelt werden musste. Der „frühe Wurm“ hatte also seine ernährungstechnischen Tücken.








Seattle im Zeichen des SIFF International Film Festivals, Juni 1998. - Fotos: Joachim Polzer
In Raum Seattle hatte man jedoch, zumal mit einer spartenbezogenen Medienprominenz, regional durchaus eine gewisse Auswahl an Kandidaten für Akquisitionen von Unternehmen, mit denen man ins Gespräch kommen konnte: Microsoft, Real Networks und dann auch irgendwann Amazon.com Inc. – Jedoch kam zeitlich vor dem Börsengang von Amazon.com Inc. eigentlich nur eine Firmenübernahme seitens Real Networks als reelle Lösung in Betracht, die dann auch realisiert werden konnte. Denn bei Microsoft hatte man bekanntermaßen bis 1998 die Internet-Entwicklung komplett verschlafen und verhielt sich mit der bisherigen Marktmacht bezüglich der vom Lizenzsierungsmodell her isoliert betrachteten PCs ignorant, was Rob Glaser ja auch zu Real Networks brachte. Anscheinend fehlten ein paar entscheidende Monate zwischen akuter Finanzierungslücke bei film.com und der Option, sich Amazon.com Inc. ebenfalls schmackhaft machen zu können. Allerdings hatte sich amazon.com nie als eZine-Aggregator verstanden; die wollten Bücher, CDs und DVDs verkaufen und zwar sehr viele davon.
Nachdem wir am 11. Juni 1998 unser Panel beim Film Makers Forum abgeschlossen hatten und sich mit der Panel-Gruppe eine Ortsbesichtigung in der Redaktion von film.com anbot, mit anschließender Führung durch die Technikräume von Real Networks, fand ich am späten Nachmittag dann doch noch Gelegenheit, mich mit Lucy Mohl einmal unter vier Augen unterhalten zu können, auf den Treppenstufen eines Festivalkinos, zu einem Becher guten Kaffees, den es nicht nur dank Starbucks inzwischen in den USA ja gab. Es entwickelte sich ein kollegiales Gespräch mit großer Vertrautheit und Innigkeit, wie ich es so noch nie erlebt hatte.
Wir beide gehörten in etwa der selben Generation an, auch wenn ich drei Jahre jünger bin als sie. Wir waren medial in unserer Kindheit und Jugend vom Fernsehen geprägt, das sich in den 1960er- und 1970er-Jahren in Form und Inhalt bereits deutlich ausdifferenziert hatte. Wer dann ab den 1980er-Jahren im Fernsehen selbst arbeiten wollte, hatte den Form-Inhalts-Erwartungen zu entsprechen, die es bereits gab, plus den Modifikationen des jeweils sich immer rascher verändernden Zeitgeistes. Das Heraufkommen des Internet als Medium bot unserer Generation nun die einmalige Gelegenheit, hier am Entstehen von etwas wirklich Neuem von Anfang an mitwirken zu können und zu versuchen, einige Grundformen dieses neuen Mediums von Grund auf mitzugestalten, dabei zu definieren. Das war das Momentum dieses, unseres Edward-R.-Murrow-Augenblicks, die Chance die sich jetzt akut bot. Once in a lifetime.

Bei mir war es während meiner Studienzeit, dass ich etwa 1992/1993 als Ko-Voluntär bei dem Film-Datenbank-Projekt Internet Movie DataBase eingestiegen bin, das seine Internet-Wurzeln noch vor dem MOSAIC-Browser in den Newsgroups des Usenets hatte, wo die ersten Filmtitel- und Personenlisten entstanden ("good looking actresses"), die dann mit Datenbank-Applikationen zunächst auf verschiedenen Betriebssystem-Plattformen integriert wurden, bis im WWW dann unter imdb.com eine der wirklich frühen Websites als Datenbank-Anwendung entstand, die sich von den Abrufzahlen her sehr erfolgreich und dann bald stürmisch entwickelte. Im Jahr 1995 wurde das Freiwilligen-Projekt imdb.com schließlich vom Freiwilligenprojekt in eine britische Limited konvertiert und im Frühjahr 1998 wollte Jeff Bezos die imdb.com Ltd. dann für sich kaufen, was er dann nach intensiven internen Diskussionen innerhalb der Crew von imdb und anschließendem einstimmigen Gesellschafterbeschluss der Share Holder von imdb.com Ltd. auch tat. Die imdb.com-Akquisition war nach dem Börsengang von Amazon.com Inc. eine der ersten drei Akquisitionen dieses aufstrebenden Unternehmens, das über lange Jahre nur Verluste produzierte, dadurch ständigen Untergangsprophezeihungen ausgesetzt war, weil alles ständig reinvestiert wurde, um schließlich zur TOP-Number-One des Handels im Internet zu werden. Die zweite war der ABC Buchdienst in Deutschland, eine einstige Bildschirmtext-btx-Anwendung, die der spätere operationelle Grundstein für die deutsche Tochtergesellschaft von amazon.de wurde. Die imdb.com war für amazon.com ideal, das heraufkommende und bereits boomende DVD-Geschäft zu aggregieren und hier weitere cinephile Kundschaft hereinzubringen. Bezos sagte uns damals, dass er, als er sich für das Internet zu interessieren begann, als eines der ersten Internetprojekte auf die imdb gestoßen sei, die ihm als Projekt sehr einleuchtete.








Seattle als Zentrum von Pacific Northwest, mit einer lebendigen Kulturszene, insbesondere bei Musik und Film. Vancouver in Kanada ist nicht weit entfernt. - Fotos: Joachim Polzer, Juni 1998
Als wir beide, Lucy und ich, da in Seattle auf den Treppenstufen saßen, ahnte sie mit ihrem Weitblick wahrscheinlich schon, dass Real Networks möglicherweise keine gute Wahl für die Zukunft für film.com war. Sie verlor mit der Übernahme durch Real Networks zunächst auch ihren Status als CEO eines eigenständigen Unternehmens und wurde damals zum "Executive Producer" einer neuen Abteilung beim Streaming-Unternehmen degradiert, unter dem Impresario Rob Glaser, geboren am 16. Januar 1962, der seinen damals neuen Mitarbeiter Tony Fadell nach Streitereien auch rasch, nach sechs Wochen Betriebszugehörigkeit, an Apple Computer verlor, wo er unter der Ägide des dann zurückgekehrten Steve Jobs als der Pate von iPod, iTunes und iSight galt. Lucy sagte mir damals, dass sie viel lieber von Amazon.com Inc. hätte übernommen werden wollen, was leider nicht geklappt hatte.
Nach der Jahrtausendwende habe ich sie und den Kontakt zu ihr aus den Augen verloren und habe lange nichts mehr von ihr gehört, bis jetzt, zum 30. Jubiläum der Spielfilm-Streamingpremiere. Nun bin ich aber sehr darauf gespannt, was aus ihr heute geworden ist.
Denn: I liked her a lot !
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Anmerkungen:
Die experimentellen Fotoscans vom Fujicolor Superia X-Tra 800 Farbnegativ auf dieser Blogseite wurden durch den KLIM K22 Filmscanner mit KODAK Filmscanner Software auf MOTO G31 erzeugt.
Der Heise-Medien-Verlag hat diesen Beitrag unter der Rubrik "Missing Link" am 27. Juli 2025 in einer überarbeiteten und gekürzten Fassung republiziert:
